Autorin Katja Hachenberg
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ROBERT SEETHALER: EIN GANZES LEBEN

Roman, Goldmann, 5. Auflage 2016

Als Andreas Egger, Protagonist des Romans „Ein ganzes Leben“, in das Tal kommt, in dem er sein Leben verbringen wird, ist er noch ein kleiner Junge. Widerwillig nimmt Bauer Kranzstocker ihn bei sich und seiner Familie auf. Andreas ist das Kind einer seiner Schwägerinnen, die ein flatteriges Leben geführt hatte und früh an Schwindsucht verstarb, worin Kranzstocker eine Strafe Gottes sieht. Immerhin, weiß der Erzähler zu berichten, hing dem Jungen ein lederner Beutel mit einigen Geldscheinen um den Hals.

Bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr wird Andreas Egger im Haus Kranzstockers bleiben, der den Jungen über all die Jahre schwerst körperlich misshandelt: „In seiner nächsten Erinnerung sah er sich als etwa Achtjährigen nackt und dünn über der Ochsenstange hängen. Seine Beine und sein Kopf pendelten knapp über dem nach Pferdeseiche stinkenden Boden, während sein kleiner, weißer Hintern in die Winterluft ragte und Kranzstockers Hiebe mit der Haselnussgerte empfing.“ Die Gründe für diese Züchtigungen sind vielfältigst: verschüttete Milch, ein verlorenes Rind oder ein verstottertes Abendgebet. Bei einer der Züchtigungen wird Andreas‘ Bein so schwer verletzt, dass er davon ein lebenslanges Hinken zurückbehält.

Als junger Mann schließt er sich später einem Arbeitstrupp an, der eine der ersten Bergbahnen baut und mit der Elektrizität auch das Licht und den Lärm ins Tal bringt. Andreas Egger lernt Marie kennen, die Liebe seines Lebens, die er heiratet und nur kurze Zeit nach der Heirat durch eine Lawine, die seine Hütte und die in der Hütte schlafende Marie unter sich begräbt, verliert. Der Text legt es nahe, dass die Arbeiten für die Bergbahnen diese Lawine mit ausgelöst haben, was dem Ganzen eine weitere Tragik verleiht. So hat Egger mit seinen eigenen Händen unwissentlich quasi den Tod seiner geliebten Frau mitbewirkt. Egger, der in dem Moment, als die Lawine sich löst, unfern der Hütte durch die Nacht wanderte, rennt durch den tiefen Schnee zurück und ruft nach Marie, wird dann aber selbst von etwas davongetragen: „das Letzte, was er sah, ehe ihn eine dunkle Welle überspülte, waren seine Beine, die über ihm in den Himmel ragten, als hätten sie die Verbindung zum Rest des Körpers verloren“. Als er wieder zu Bewusstsein kommt, kratzt und schaufelt er mit seinen Händen seine Beine aus dem Schnee, die ihm kalt und fremd wie zwei Holzstücke vorkommen. Mit den Fäusten schlägt er das Leben in sie zurück. Als er, unter schlimmsten Schmerzen, wieder gehen kann, arbeitet er sich vor bis zu der Stelle, an der seine Hütte gestanden hat. Im Schnee kniend, ruft er den Namen seiner Frau und gräbt nach ihr, bis seine Hände bluten und der Schnee unter ihm sich dunkel färbt: „Als er nach einer Stunde etwa anderthalb Meter tief gekommen war und einen von der Lawine zerrissenen, wie einzementierten Dachbalken unter seinen wunden Fingern spürte, hörte er auf zu graben.“ Die Bergbahnbaufirma übernimmt für Egger die Arztkosten und stellt ihm eine kleine Kammer zur Verfügung.

Mit Egger bewegen wir uns als Lesende durch die 185 Seiten des Romans. Robert Seethaler, der Autor, war für mich eine Entdeckung. Mit „Ein ganzes Leben“ hat er große Literatur geschrieben, ein unvergesslicher, tiefgründiger und zugleich spannender, sehr kurzweiliger Text. Andreas Egger wird zu einer unvergesslichen Figur, der Leser zum intimen Kompagnon. Eggers Leben funktioniert, weil er sich an keiner Stelle die Frage nach dem „Warum“ stellt: Schon als Kind blieb er bei den Schlägen des Ziehvater stumm. Mit Mühe, heißt es im Text, „hatte er sich eine Handvoll Wörter zusammengesammelt (…). Reden hieß Aufmerksamkeit bekommen, und das wiederum verhieß nichts Gutes.“ Ein grundehrlicher, authentischer und keineswegs einfältiger Charakter, sondern ein großer, starker und tragischer. Alles, was das Schicksal ihm zuspielt, nimmt Egger an und geht damit weiter, macht das Beste daraus. Er fragt nicht nach dem Warum des schrecklichen Todes von Marie noch überhaupt danach, weshalb er ein so schweres Leben zu führen hat. Wie ein Maultier trägt er die ihm aufgetragene Last. Und er trägt sie gern. So kommt es, dass er am Ende seines Lebens, als Neunundsiebzigjähriger, für sich eine positive Bilanz ziehen kann: „Er hatte länger durchgehalten, als er selbst je für möglich gehalten hätte (…). Er hatte seine Kindheit, einen Krieg und eine Lawine überlebt. Er war sich nie zu schade für die Arbeit gewesen (…). Soweit er wusste, hatte er keine nennenswerte Schuld auf sich geladen, und er war den Verlockungen der Welt, der Sauferei, der Hurerei und der Völlerei, nie verfallen. Er hatte ein Haus gebaut, hatte in unzähligen Betten, in Ställen, auf Laderampen und ein paar Nächte sogar in einer russischen Holzkiste geschlafen. Er hatte geliebt. Und er hatte eine Ahnung davon bekommen, wohin die Liebe führen konnte. (…) Er war nie in die Verlegenheit gekommen, an Gott zu glauben, und der Tod machte ihm keine Angst.“

Prädikat: „Unbedingt lesenswert!“ Ebenso wie Seethalers „Der Trafikant“, in dem die Begegnung eines Jungen aus dem Salzkammergut mit Sigmund Freud im Wien des Jahres 1939 beschrieben wird. Einen Einblick in den Text sowie einen prägnanten und schönen Eindruck des Autors als Lesenden erhält man hier.

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