Autorin Katja Hachenberg

Marlen Haushofer, Die Wand und ich

Bücher gibt es. Und Klassiker gibt es. Der Klassiker verstanden als ein Buch, das nie aus der Mode kommt, immer aktuell ist, in der Lage, Generation um Generation zu begleiten und jede Leserin neu wie ein Schlag auf den Kopf zu treffen, den Blick auf die Dinge zu verändern, ja, sogar grundlegend zu verändern.

„Die Wand“ der österreichischen Autorin Marlen Haushofer ist ein solches Buch. Gefragt nach den wichtigsten Büchern meines Lebens, gehört dieses an vorderster Stelle dazu. 

Seit meiner Kindheit stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn ich von jetzt auf gleich mein Zuhause verlassen müsste, nur mit einem Koffer bepackt: Darin die wichtigsten persönlichen Dinge und ein paar Bücher, ohne die ich nicht sein könnte — dort, in jenem imaginären Exil, auf jener fiktiven Insel, fernab von allem und allen. „Die Wand“ war immer dabei, in diesem vorgestellten Koffer, der die Essenz meines Lebens enthält.

Marlen Haushofers bekanntestes Werk, ihr dritter Roman, im Jahr 1963 erschienen, 2012 mit Martina Gedeck in der Hauptrolle verfilmt: Eine Robisonade, die das Leben einer namenlosen Frau beschreibt, die durch eine aus dem Nichts aufgetauchte unsichtbare Wand von der Zivilisation abgeschnitten und in einen genau abgegrenzten Bereich der Natur hermetisch eingeschlossen wird, begleitet mich seit Jahrzehnten, genauer gesagt seit meiner Zeit als Schülerin in der Kursstufe, als ich dieses Buch meinem Deutsch-Leistungskurs vorstellte. Ich erinnere mich noch an die Reaktionen: „Wie, eine Wand, was für eine Wand?“, „Wie kann man sich das vorstellen?“, „Was, es gibt keine anderen Menschen?“, „Wie ist die Autorin darauf gekommen, so etwas zu schreiben?“ und, natürlich (denn wir lernten ja das Interpretieren literarischer Texte), „Was will die Autorin uns damit sagen?“. Zur Beantwortung dieser Fragen, die ich mir selbst gestellt hatte, las ich ein paar Textstellen vor, die den absurden Umstand des plötzlichen Eingeschlossen-Werdens von einem undefinierbaren „Gegenstand“ — der sich im Verlauf der Geschichte eher als ein (geistig-seelischer) „Zustand“ entpuppt —, zu erklären in der Lage sein könnten, es aber schließlich doch nicht waren. Die Wand ist da. Die Wand ist. Und damit Punkt. Literatur braucht keine Erklärung, diese Lektion lernte ich damals eindrucksvoll und nachhaltig, sie stellt (sich) Dinge vor — mitten in den Raum hinein, uns direkt vor Augen.

„Die Wand“ begleitet mich seitdem. An allen wichtigen Stationen meines Lebens taucht sie auf. Dieses Buch zog mit mir um und ein, die ursprüngliche Ausgabe multiplizierte sich zu verschiedenen Ausgaben.

Wenn auch nicht explizit, so doch subtil (gleichsam als ein „Paratext“ im Genette’schen Sinne) ist das Phänomen „Wand“ auch meiner literaturwissenschaftlichen Dissertation eingeschrieben, die sich mit Raummetaphern beschäftigt, mit jenen fiktiven Räumen, die das „Terroir“ für die unterschiedlichsten Figuren und Plots darstellen. Im Schreiben dieser Arbeit interessierte mich, wie diese fiktionalen Räume gestaltet, wie sie qua Sprache geschaffen und ausstaffiert werden, und mich beschäftigte, auf welche Weise sie mit den jeweiligen Figuren, die sie bevölkern, zusammenhängen und interagieren, ihrerseits selbst zu Subjekten werden. Denn es ist offensichtlich: Literarischer Raum ist keine leblose Schachtel oder starre Hülle, sondern geschmeidig, lebendig, handlungsbildend und -tragend; Raum und Figur sind wechselseitig aufeinander bezogen. Das namenlos bleibende weibliche Ich in „Die Wand“ ist allein denkbar vor dem Hintergrund der Entstehung dieser Wand und all dessen, womit es sich durch diesen Umstand konfrontiert sieht. Durch das Phänomen „Wand“ wird die Frau gezwungen, ein völlig neues Leben zu beginnen und einen schonungslosen, entzaubert-desillusionierten Blick auf ihr zurückliegendes Leben zu werfen, zu dem ihr fortan jeder Zugang versperrt ist, denn „alle, denen zuliebe ich ein Leben lang gelogen habe, sind tot“. Radikal ist der Blick, den die Protagonistin auf ihr Leben wirft, auf den Ehemann und die Kinder, die nun tot sind und für die sie nur wenige — kaum gute — Worte findet: 

Wenn ich heute an meine Kinder denke, sehe ich sie immer als Fünfjährige, und es ist mir, als wären sie schon damals aus meinem Leben gegangen. Wahrscheinlich fangen alle Kinder an, aus dem Leben ihrer Eltern zu gehen; sie verwandeln sich ganz langsam in fremde Kostgänger. All dies vollzieht sich aber so unmerklich, daß man es fast nicht spürt. Es gab zwar Momente, in denen mir diese ungeheuerliche Möglichkeit dämmerte, aber wie jede andere Mutter verdrängte ich diesen Eindruck sehr rasch. Ich mußte ja leben, und welche Mutter könnte leben, wenn sie diesen Vorgang zur Kenntnis nähme? (S. 30) 

Vom Ehemann bleibt nichts als eine geschenkte goldene Uhr, die noch nie funktionierte, von den Kindern die Erinnerung daran, dass sie nur kamen, um zu gehen, dass sich zwischen ihnen allen, Mann, Frau, Kindern, sehr bald eine Art Gleichgültigkeit und, stärker noch, Fremdheit einstellte. Nur allzu evident, dass diese Gleichgültigkeit und der Zustand der Entfremdung zwischen diesen Menschen, den eigentlich „Nächsten“, den Mitgliedern einer Familie, jene „Wand“ schon vorbereitete, die jetzt so unmittelbar aufgetaucht ist und die Frau in einem letzten, endgültigen Sinne von jeglicher Sozialität, jedweder gesellschaftlichen Eingebundenheit abtrennt und auf das eigene Ich zurückwirft. 

Was bleibt, ist dieses weibliche Ich. Ist die Natur, sind die Tiere. Was bleibt, ist die eigene Kreatürlichkeit, die Besinnung auf Rhythmen und Jahreszeiten, auf die basalen Vorgänge und Prozesse des Lebens. Die Sphäre, das Biotop, das die „Wand“ für die Protagonistin bildet, mag einerseits eng und überschaubar erscheinen, eröffnet ihr aber andererseits Räume: die (keineswegs überschaubaren) Räume der Erinnerung und Vorstellung. Erst innerhalb der „Wände“ dieser numinosen „Wand“, die so ungreifbar wie hart und undurchdringlich ist, beginnt die Frau zu schreiben

Heute, am fünften November, beginne ich mit meinem Bericht. Ich werde alles so genau aufschreiben, wie es mir möglich ist. (…) Ich habe diese Aufgabe auf mich genommen, weil sie mich davor bewahren soll, in die Dämmerung zu starren und mich zu fürchten. Denn ich fürchte mich. Von allen Seiten kriecht die Angst auf mich zu, und ich will nicht warten, bis sie mich erreicht und überwältigt. Ich werde schreiben, bis es dunkel wird, und diese neue, ungewohnte Arbeit soll meinen Kopf müde machen, leer und schläfrig. Den Morgen fürchte ich nicht, nur die langen, dämmrigen Nachmittage. (S. 3)

Ist es wirklich der fünfte November, an dem sie mit dem Schreiben ihres Berichts beginnt? 

Die Frau weiß es nicht so genau, denn im Laufe des Winters sind ihr aufgrund eines hohen Fiebers, das sie beinahe das Leben kostete, einige Tage abhanden gekommen. Auch weiß sie nicht exakt, wie spät es ist, denn ihre Uhr  — eben jene Uhr, die ihr Mann ihr einst schenkte, die „winzige, goldene Armbanduhr, eigentlich nur ein teures Spielzeug“ (ebd.) — ging ja verloren.

Gleich zu Beginn macht die Protagonistin deutlich, dass sie nicht aus Freude am Schreiben schreibt: Es habe sich „eben so für mich ergeben, daß ich schreiben muss, wenn ich nicht den Verstand verlieren will“ (ebd.): Schreiben mithin als Rettungsaktion, als Schutzmaßnahme, wie die Vielzahl der mühevollen alltäglichen Verrichtungen, um nicht tatsächlich verrückt zu werden, denn metaphorisch „ver-rückt“ ist sie ja schon, diese Frau — ver-rückt von allem Bekannten und Vertrauten, von all dem, für das es Namen, Benennungen gibt, von all dem, worin sie fraglos wurzelte, den Gewohnheiten, in denen sie wohnte, den Ritualen, die sie absicherten und die ihrem Leben Struktur verliehen; ver-rückt von jenem festen Boden, der verhinderte, dass sie absank und einsank und nicht wieder herauskam aus dem Sumpf des Absurden. 

Die „Wand“ steht für dieses Verrückt-worden-Sein, steht für alles, was auf dem Spiel steht, für alles Vertraute, das verschwunden ist, für alles Ungeliebte auch, das man schon lange verlassen wollte, wozu einem aber der Mut fehlte. Die Wand macht es möglich, alles in einem reine(re)n Licht zu sehen und jede Lüge furchtlos zu entlarven. In ihrem tiefsten Sinne ist die Wand ein Spiegel, der der Protagonistin ihr wahres Gesicht und damit ihr eigentliches Sein unverfälscht und ohne jede Verzerrung vor Augen stellt. Keine Illusion, die übrig bliebe. Keine Täuschung, die nicht ent-täuscht würde. 

„Und hier eine Katzengeschichte.“ Mit diesen Worten soll Marlen Haushofer ihrem Lektor das Manuskript des Romans überreicht haben. Ja, „Die Wand“ ist auch eine „Katzengeschichte“, lebt die Protagonistin doch mit einer Katze, einem Hund, einer Kuh und einem Stier zusammen, die gleichsam ihre neue Familie, ihr neues soziales System und Gefüge darstellen. Die Katze kommt an einem Abend Ende Mai ins Haus — besser: in die Jagdhütte —, als klatschnasses graues Bündel hockt sie vor der Tür und jammert. Später, in der Hütte, schlägt sie „entsetzt ihre Krallen in meinen Schlafrock“ (S. 37) und faucht den bellenden Luchs wütend an. 

Die Katze — namenlos wie die Protagonistin — bleibt dieser durch alle Entwicklungen des Romangeschehens hindurch zur Seite gestellt; auch, als die Katzenkinder, die sie bekommen hat, längst tot sind, Luchs und der kleine Stier mit einem Beil erschlagen wurden, ist die Katze noch an der Seite der Frau. Es ist mehr als ein Zufall, dass am Ende dieses Romans allein das Weibliche noch existiert — in Gestalt der Hauptfigur, der Katze und der Kuh Bella. Nichts Männliches ist übrig geblieben, selbst der Stier und der Hund durften oder konnten nicht überleben in dieser durch die Wand abgetrennten Welt. Bezeichnend, dass beide Tiere dem einzigen lebendigen Mann zum Opfer fallen, der im Buch auftritt (ein anderer, alter Mann, ist — auch dies ein starkes Symbol, eine passgenaue Metaphorik — versteinert wie die Vögel auf der anderen Seite der Wand zu erblicken):

Plötzlich, ich konnte die Hütte noch gar nicht richtig sehen, stutzte Luchs und rannte dann mit wütendem Gebell über die Wiese. Ich hatte ihn noch nie auf diese Weise bellen gehört, grollend und haßerfüllt. Ich wußte sofort, daß etwas Schreckliches geschehen war. Als die Hütte mir nicht mehr die Sicht verdeckte, sah ich es. Ein Mensch, ein fremder Mann, stand auf der Weide, und vor ihm lag Stier. Ich konnte sehen, daß er tot war, ein riesiger graubrauner Hügel. Luchs sprang den Mann an und schnappte nach seiner Kehle. Ich pfiff ihn gellend zurück, und er gehorchte und blieb grollend und mit gesträubtem Fell vor dem Fremden stehen. Ich stürzte in die Hütte und riß das Gewehr von der Wand. Es dauerte ein paar Sekunden, aber diese paar Sekunden kosteten Luchs das Leben. Warum konnte ich nicht schneller laufen? Noch während ich auf die Wiese rannte, sah ich das Aufblitzen des Beils und hörte es dumpf auf Luchs’ Schädel aufschlagen. Ich zielte und drückte ab, aber da war Luchs schon tot. Der Mann ließ die Axt fallen und sank, in einer sonderbaren kreiselnden Bewegung, in sich zusammen. Ich beachtete ihn gar nicht, als ich neben Luchs hinkniete. (S. 223 f.)

Während bei Luchs keine Verletzung wahrnehmbar ist — nur aus seiner Nase tropft ein wenig Blut —, ist Stier schrecklich zugerichtet: Sein Schädel, von vielen Hieben gespalten, liegt in einer großen Blutlache. Die Protagonistin trägt den Hund zur Hütte, er ist ganz klein und leicht geworden. Erst später fällt ihr der tote Mann wieder ein. Ihn — sein Gesicht ist „sehr häßlich“, seine Kleider sind schmutzig und verkommen, aber aus teurem Stoff und von einem guten Schneider genäht — schleift sie zum Aussichtsplatz und lässt ihn dort, „wo der Felsen steil in die Geröllhalde abfällt“, hinunterrollen (S. 224). Den toten Stier kann sie nicht von der Stelle bewegen, ihn lässt sie liegen, wo er liegt, die Natur wird ihn zurückholen: „Im Sommer wird sein Gebein auf der Wiese bleichen, Blumen und Gräser werden durch ihn hindurchwachsen, und ganz langsam wird er in die regenfeuchte Erde versinken“ (ebd.). Für Luchs hebt sie ein Grab aus — unter einem Strauch mit wohlriechenden Blättern, seinem Lieblingsplatz auf der Alm. Drei Todesarten, drei Tote, und es ist symptomatisch für das Buch, dass allein die beiden Tiere betrauert werden, nicht aber der Mensch, der Mann; dass den beiden Tieren ein Ruheplatz zugestanden wird, was ihnen und ihrem Leben auch nachträglich noch Würde verleiht, die Erinnerung an sie ermöglicht und ihr einen (konkreten) Ort und (imaginären) Raum gibt, nicht aber dem Mann. 

Männer sind in diesem Roman abwesend und selbst in ihrer Abwesenheit noch bedrohlich. Der einzige Mann, der auftritt, ist eben jener irre Mörder, der offensichtlich allein aus der Lust am Töten heraus handelt. Sein als „hässlich“ beschriebenes Gesicht ist Ausdruck der Hässlichkeit seines Charakters. Dieses hässliche Gesicht deutet auch auf seine (männliche) Sicht hin, die das Leben verneint und vernichtet, ihn ohne Gründe und mit äußerster Brutalität handeln, ein junges Leben sinnlos auslöschen lässt. Dass ihm auch Luchs zum Opfer fällt, die Protagonistin den Fehler macht, den Hund zurückzupfeifen, was ihm das Leben kostet und sie ihrerseits zur Mörderin (in Notwehr) werden lässt, ist mehr als tragisch und wird sie noch am Ende ihres Berichts beschäftigen (wohingegen sie den Umstand, dass das Leben des fremden Mannes durch ihre Hand beendet wurde, nicht reflektiert):

Ich verstehe nicht, was geschehen ist. Noch heute frage ich mich, warum der fremde Mann Stier und Luchs getötet hat. Ich hatte doch Luchs zurückgepfiffen, und er mußte wehrlos darauf warten, daß ihm der Schädel eingeschlagen wurde. Ich möchte wissen, warum der fremde Mann meine Tiere getötet hat. Ich werde es nie erfahren und vielleicht ist es auch besser so. 

Als im November der Winter hereinbrach, beschloß ich, diesen Bericht zu schreiben. Es war ein letzter Versuch. Ich konnte doch nicht den ganzen Winter am Tisch sitzen mit dieser einen Frage im Kopf, die mir kein Mensch, überhaupt niemand auf der Welt, beantworten kann. Ich habe fast vier Monate dazu gebraucht, diesen Bericht zu schreiben. (S. 236)

Während des Schreibens hat die Frau sich des Öfteren die Frage gestellt, für wen sie den Bericht überhaupt schreibt: Sie denkt darüber nach, dass sie noch immer hofft, ein Mensch werde ihre Zeilen eines Tages lesen: „Ich weiß nicht, warum ich es wünsche, es macht doch keinen Unterschied.“ (S. 67) Ihr Herz klopft schneller, wenn sie sich vorstellt, dass Menschenaugen auf ihren Sätzen ruhen, Menschenhände diese Blätter wenden werden. Viel eher aber, ahnt sie, „werden die Mäuse den Bericht fressen. (…) Es ist ein merkwürdiges Gefühl, für Mäuse zu schreiben“ (ebenda).

„Die Wand“: Eine „Katzengeschichte“ also, eine Geschichte von Katzen, Mäusen und Menschen, von Frauen und Männern, einem weiblichen Ich, dem die Augen der Katze zum Spiegel werden — „Ich sehe mein Gesicht, klein und verzerrt, im Spiegel ihrer großen Augen.“ (S. 40) — und das es sich angewöhnt hat, mit den Tieren zu sprechen, da es dafür keine Menschen mehr gibt. Menschen tauchen — in verzerrter Gestalt, auch als Mischwesen aus Mensch und Tier, tot und lebendig — in den Träumen der Protagonistin auf, greifen mit Händen nach ihr, werden, das Gesicht voran, an die Oberfläche des Bewusstseins gespült. 

Dem Leser stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des im Roman dargestellten Lebens- und Welt-Entwurfs: Ist es eine Utopie, eine wünschenswerte Welt? Oder eine Dystopie? Am ehesten noch scheint der fiktionale Raum des Textes mit dem Konzept der Heterotopie fassbar zu werden, das Michel Foucault 1967 in seinem Text „Andere Räume“ entworfen hat: Heterotopien als Orte ohne Ort, die sich gleichzeitig darbieten und entziehen, einen eigenen Kosmos ausbilden und ein ausgeprägtes Imaginationspotenzial in sich tragen, Orte, die gemäß (system-)inhärenter Strukturen funktionieren und über bestimmte Mechanismen verfügen, monadische Räume. Foucault führt als Beispiele Gefängnisse, Kasernen, Friedhöfe, psychiatrische Anstalten, Bordelle, Kolonien und Schiffe an; auch den Spiegeln kommt in seinem Aufsatz eine besondere Bedeutung zu, bilden sie doch ein Dazwischen-Liegendes aus, eine Platzierung zwischen Real- und Illusionsraum. Heterotopien setzen ein System von Öffnung und Schließung voraus und organisieren sich auf komplexe Weise. „Die Wand“ bildet eine Heterotopie im Foucault’schen Sinne aus, stellt ein künstliches Klimat her, das einschließt und ausschließt. Das Leben der Protagonistin spielt sich innerhalb der Wände einer fiktiven Wand ab: Das schafft Übersicht wie Gefangenschaft, Zugehörigkeit wie Fremdheit.

„Marlen Haushofers Erzählwelt ist ein kleiner Kosmos, dessen Geographie ihren eigenen engen Lebensraum genau abbildet“, schreibt Sibylle Cramer in ihrem Beitrag „Es war besser, von den Menschen wegzudenken“ in der Frankfurter Rundschau vom 8.11.1985. Den Frauen der Marlen Haushofer sei der Möglichkeitssinn abhanden gekommen, die Vorstellung, die eigene Zukunft gestalten zu können. Haushofers Romane seien „Bruchstücke einer einzigen großen Biographie, die entfremdetes weibliches Leben“ aufzeichne. Durch die Häuser, in denen die Frauengestalten der Autorin lebten, gehe eine unsichtbare Wand, die die Frauen von den Menschen, mit denen sie zusammenleben, abtrenne.

So zieht sich auch das weibliche Ich in Haushofers Roman „Die Mansarde“ — das von sich behauptet, es gern zu haben, von Dingen umgeben zu sein, „die mich nicht wahrnehmen und mir nicht nahetreten, Modelle alter Schiffe mit geblähten Segeln, um die nie ein Wind weht“ — in das Mansardenzimmer des großen Hauses der Familie zurück, das ihr zur Zufluchtsstätte und zum Ort der Imagination wird: „Die Mansarde gehört mir. Selbst Hubert betritt sie nur, wenn ich ihn ausdrücklich einlade“ (Die Mansarde, S. 19). In der Mansarde kann die Protagonistin zeichnen oder malen oder aber einfach nur hin und her gehen. Sie betrachtet ihr Zeichen-Talent als „sehr begrenzt“, doch innerhalb dieser Grenzen habe sie es zu „einer gewissen Meisterschaft gebracht“ (ebenda). Sie hat nie etwas anderes gezeichnet als Insekten, Fische, Reptilien und Vögel; „zu den Säugetieren und den Menschen bin ich nie vorgestoßen“ (ebenda). Es ist ihr Ziel, einen Vogel zu zeichnen, „der nicht der einzige Vogel auf der Welt ist. Ich meine damit, man müßte dies auf den ersten Blick erkennen“ (Die Mansarde, S. 20).

„Die Wand“, „Die Mansarde“, „Die Tapetentür“: In allen drei Romantiteln kommt die Bedeutsamkeit der Raum-Metaphorik für das Werk Haushofers zum Ausdruck, fungiert ein räumliches Bild als Zentrum und Keimzelle des Textes. Unlängst beleuchtete Markus Bundi Texte der Autorin unter dem Fokus der „Begründung eines Sprachraums“. Marlen Haushofers Fiktion generiert selbstreferenziell-autopoietische, eigenen ästhetischen Gesetzen gehorchende Sprach- und Erlebensräume, die von bleibendem Reiz und Wert sind. 

In diesem Jahr — am 21. April — jährt sich der Geburtstag der Autorin zum einhundertsten Male. Und ebenfalls in diesem Jahr — am 21. März 2020 — jährt sich ihr Todestag zum fünfzigsten Male. Marlen Haushofer starb, mit gerade einmal fünfzig Jahren, an Krebs. Lange bettlägerig, bemerkt Klaus Antes in „Das unlebbare Leben der Marlen Haushofer“, „wäre sie wohl gerne, noch einmal wenigstens, zurückgekehrt an die Orte ihrer Kindheit — auf die Haidenalm etwa oder zur Lackenhütte im Sengsengebirge —, beide verewigt in ‚Die Wand‘“. Und er mutmaßt weiter, dass aus einer solchen Rückkehr gewiss neue Bücher erwachsen wären, „große Literatur, die für sie der Ernstfall war, Ersatz für ein Leben, das sie so nicht geliebt hat“ (S. 47).

Wie die namenlose Protagonistin in „Die Wand“ scheint die Autorin selbst zwischen jene Pole des Erlebens gespannt gewesen zu sein, die sie einerseits zu der Beobachtung führten, „dass alles viel zu wenig war“, andererseits aber weitersehen ließen: 

Jetzt bin ich ganz ruhig. Ich sehe ein kleines Stück weiter. Ich sehe, daß dies noch nicht das Ende ist. Alles geht weiter. Seit heute früh bin ich ganz sicher, daß Bella ein Kalb haben wird. Und, wer weiß, vielleicht wird es doch wieder junge Katzen geben. Stier, Perle, Tiger und Luchs wird es nie wieder geben, aber etwas Neues kommt heran, und ich kann mich ihm nicht entziehen (S. 226).

1 Alle Seitenzahlen beziehen sich auf die Ausgabe: Marlen Haushofer: Die Wand, Ernst Klett Verlag: Stuttgart, Düsseldorf, Leipzig, 1. Auflage 2006
2 Michel Foucault (1967): Von anderen Räumen. In: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Hg. von Jörg Dünne und Stephan Günzel. Suhrkamp Verlag: Frankfurt a. M., 2006, S. 317-329.
3 Sibylle Cramer: Es war besser, von den Menschen wegzudenken. In: Frankfurter Rundschau, 8.11.1985, hier zit. nach Die Wand, S. 263-265.
4 Marlen Haushofer: Die Mansarde. Roman. Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt a. M., 1988, S. 17.
5 Siehe hierzu die Rezension „Der Zeit voraus. Markus Bundis luzider Essay zum Werk von Marlen Haushofer.“ In: literaturkritik.de vom 15.1.2020 (https://literaturkritik.de/bundi-begruendung-eines-sprachraums-zeit-voraus-luzider-essay-ueber-marlen-haushofer,26374.html, Zugriff am 13.2.2020)
6 Klaus Antes: Das unlebbare Leben der Marlen Haushofer. In: Die Wand, a. a. O., S. 241-248, hier: S. 247.

Erstveröffentlicht im März 2020 in der Kolumne des Panima Verlags Karlsruhe