John Irving: Garp und wie er die Welt sah
Roman
52. Auflage September 2015, Rowohlt Taschenbuch Verlag
Die amerikanische Originalausgabe erschien 1978 unter dem Titel „The World According to Garp“ im Verlag E. P. Dutton, New York
680 Seiten, von denen man sich wünscht, dass es noch einmal so viele seien – so groß ist das Lesevergnügen und so groß die Angst mit jedem gelesenen Kapitel, das die noch zu lesende Seitenzahl schrumpfen lässt. Doch: Was soll man tun? Langsamer lesen, das Buch beiseite legen, ein paar Tage lang vergessen… Nur um das Lesen in die Länge zu ziehen, nur, um die Geschichte tiefer auszukosten, nur, um das Ende in weitere Ferne zu rücken?
„Er wurde geboren mit einem sonnigen Gemüt und der Gewissheit, dass die Welt verrückt ist“, heißt es über Garp, genauer: T. S. Garp, wobei ungewiss ist, wofür die beiden Initialen T. und S. stehen.
Garps Universum ist bunt – so bunt wie unsere Welt, so absurd, tragisch, komisch wie unsere Welt. Wir begegnen Huren und Transsexuellen, einer Frau, die den Sex verweigert, aber dennoch ein Kind haben will, wir begegnen Männern und Frauen und Kindern, einem Lektor, einem Mörder, einem Vergewaltiger und und und… Es ist ein barockes, strotzendes, überbordendes und seiner selbst gewisses Erzählen, ein Erzählen, das das Erzählen als solches feiert, ein nicht eindämmbarer, nicht zu besiegender Strom: der Sieg der Lebenslust über die Lebensangst, der Sieg des Muts über die Bedenken. Je verrückter das Geschehen wird, umso mehr wächst die Liebe zu Garp und den Seinen, seinem Kosmos, seiner Mutter Jenny Fields, einer wundervollen Frau mit eigensinnigem Kopf, seiner Ehefrau Hellen, einer Literaturprofessorin, seinen Kindern Duncan – der Künstler und Fotograf werden wird – und Walt, der durch ein von seinen Eltern mit verschuldetes Unglück schon als kleiner Junge stirbt. Wir sehen das Unglück auf uns zukommen, sehen es auf die Familie T. S. Garp zukommen. Cut. Im folgenden Kapitel wird erzählt, wie sie alle genesen: Garp mit geklammerten Mund und Helen mit genähter Zunge, Duncan mit einem ausgestochenen Auge (vom Schalthebel des Volvos, zwischen dessen Sitzen er stand, als der Unfall passierte)… Alle umsorgt von Jenny Fields, der Krankenschwester. Und plötzlich… Man hat das Buch schon vor Stunden weggelegt… fällt es einem auf: Alle? Alle genesen, alle werden umsorgt? Fehlt da nicht einer? Wer wird erwähnt mit welcher Verletzung? Garp, Helen, Duncan. Was ist mit Walt…? Leerstelle. Erst nach und nach, über die Ungeheuerlichkeit dieser Abwesenheit, erfahren wir, dass er bei dem Autounfall ums Leben gekommen ist. Erzähltechnisch perfekt. Das Fehlen einer Stimme, dessen man sich langsam nur bewusst wird….
Stimmen fehlen, ein Auge fehlt, später kommen ein fehlender Arm, ein fehlender Penis, fehlende Zungen hinzu… Je absurder die Geschichte gedeiht, umso fesselnder gedeiht sie auch. Hier haben wir sie: die Abgründe unseres Lebens, unseres Menschseins. Keine Illusion ist so falsch wie die, ein perfektes, unantastbares und fehlerfreies Leben leben zu können. Keine Illusion ist illusorischer als die, wir könnten ohne Schuld und ohne andere (und uns selbst) zu verletzen durch dieses Leben kommen. Und keine Illusion wird brutaler entlarvt als die, dass Leben an sich planbar sei. Die Dinge geschehen, wie das Erzählen geschieht. Es vollzieht sich einfach, es strömt, es träumt, frei, ungehemmt und ungehindert, wolllüstig, lasziv.
Die Lektüre von „Garp und wie er die Welt sah“ wird für jeden Leser und jede Leserin etwas bedeuten. Für einen Schriftsteller wird sie etwas Besonderes bedeuten. Sie wird sein Schreiben neu ordnen und seine Art zu sehen nachhaltig und unwiderruflich verändern. Er wird seinen literarischen Weg einteilen in eine Zeit vor Garp und in eine Zeit nach Garp. Es ist, als hätte Irving einem die vielen Schleier von den Augen gerissen, die dort seit Jahren und Jahrzehnten fest verknotet und doch nahezu unbemerkt saßen. Er reißt sie fort mit brachialer Lust… und lässt die Augen zum ersten Mal sehen.
Was motiviert das literarische Schreiben? Auch darüber erfahren wir viel in diesem Roman, ist Garp doch ein Schriftsteller, wenn auch einer mit einem ziemlich überschaubaren Werk. Die Fantasie, die Vorstellung, das freie Vagabundieren der Vorstellungskräfte motivieren das Schreiben. Und die Erfahrung, das Erlebte, die Erinnerung. Der freie Fluss der Fantasie ist aber wichtiger als jede Erinnerung – das reine Vorstellen, die Fiktion (das Erdachte, Ausgedachte) im besten Sinne.
Irving schenkt uns mit Garp das Bild des „Captain Energy“: „Und wenn Leben in dir ist, sagten Garps Augen, besteht Hoffnung, dass Energie in dir sein wird“. Mit diesen Sätzen, gesprochen von Garps Augen zu Helen, die ihn in ihren Armen hält, stirbt Garp 33-jährig an den Folgen eines Bauchschussses durch eine politische Fanatikerin und Aktivistin in seinem geliebten Ringerraum.
Weitere erlesene Werke:
- Marlen Haushofer, Die Wand und ich
- ROBERT SEETHALER: EIN GANZES LEBEN
- Virginia Woolf: Tagebücher
- Siri Hustvedt: Being a man
- Donna Tartt: Der Distelfink
- Sándor Márai: Die Glut
- Cees Nooteboom: Geflüster auf Seide gemalt
- Maria Cecilia Barbetta: Änderungsschneiderei Los Milagros
- Yann Martel: Die Hintergründe zu den Helsinki-Roccamatios
- Yann Martel: Schiffbruch mit Tiger