Autorin Katja Hachenberg

Die Stimme und der Raum. In ihrem Erzählband „Der japanische Junge“ erkundet Katja Hachenberg-Voss Möglichkeiten der Selbstbehauptung.

Von Christoph Seifener

Der japanische JungeEin junger Mann, der aus seinem allzu geordneten, fremdbestimmten Leben eines Tages ausbricht und „aus dem Bild tritt“; eine Stimme, die sich vom Körper einer Frau löst, Selbstbewusstsein und ein Eigenleben entwickelt; ein Jugendlicher, der erleben muss, wie sich die vertrauten Dinge um ihn herum auflösen und verschwinden. In den drei Geschichten in Katja Hachenberg-Voss‘ Erzählband „Der japanische Junge“ werden Grenzen überschritten. Grenzen des Gewohnten, Grenzen von Raum und Zeit und nicht zuletzt die Grenzen des Körpers.
Dabei interessieren Hachenberg-Voss vor allem die Stimmen der Protagonisten, die inneren vor allem, aber auch die äußerlich vernehmbaren. Um sie kreisen die Erzählungen, um die Bedeutung der Stimme als Ausdruck des Selbstbewusstseins und der Identität der Figuren, um die Möglichkeit auch, mit Hilfe der Stimme Körpergrenzen zu überschreiten und mit der Umwelt in Kontakt zu treten.

Der japanische Junge, Hauptfigur der Titelgeschichte, ist stumm. Er behält seine Stimme für sich und verweigert sich so den Ansprüchen und dem Leistungsdenken seiner Umwelt. In seinem Kopf aber nehmen Buchstaben, Worte und Sätze konkrete Gestalt an. Da „kreisen die Wörter so schön, die Sätze laufen bunt auf Bahnen und brechen aus, ab und an springt ein vereinzelter Buchstabe mir hoch an die Schädeldecke und ich freue mich“, so der Junge, „weil mit ihm ein neues Wort beginnt, ein neues Spiel.“
„Ver-rückt“ ist so ein Wort, das einerseits beschreibt, wie seine Umwelt ihn, den Außenseiter, wahrnimmt, aber anderseits, positiv gewendet, seine eigene Situation verdeutlicht. Der Junge hat sich selbst ver-rückt, als er eines Tages nicht mehr zu seiner Arbeit ins Rathaus geht und statt dessen tägliche Wanderungen in den Bergen unternimmt. Er hat damit seinen Standpunkt, seinen Platz in der Welt verändert und sich neue (Frei-)Räume und Perspektiven erschlossen.
Und damit kommt ein weiterer Aspekt ins Spiel, der in allen Erzählungen des Bandes eine große Rolle spielt: der Zusammenhang zwischen der Stimme und dem Raum. Die Raumerfahrung nämlich, die es erlaubt, den eigenen Körper gegen eine Umwelt abzugrenzen, ist für die Konstituierung der Identität genauso entscheidend wie die Stimme, die „Ich“ sagen kann.
Diese Aspekte von Raum und Stimme, und auch die Freude an den Wörtern, die der Junge verspürt, werden in der zweiten Erzählung „Die Stimme der Annabel Ziekowski“ aufgegriffen und weiter zugespitzt.
Eine Stimme löst sich vom Körper einer Frau und nimmt von einem Raum, einem spärlich möbilierten Zimmer, Besitz. Sie erkundet dieses Zimmer, und es wird deutlich, dass die Stimme nicht nur über den Raum verfügt, sondern auch über die Zeit. Sie kann teilhaben an der Vergangenheit und längst verstorbene Bewohner des Zimmers wahrnehmen. Vor einem Spiegel schließlich ist die Stimme auf sich selbst, auf ihr eigenes Wesen verwiesen. Und dieses Wesen zeigt die Stimme als den Ursprungs allen Erzählens und damit auch als den Ursprung der Literatur. „Die Stimme betrachtete sich eingehender. (…) In ihr waren andere Stimmen, Stimmen, die Worte sagten und Texte lasen. Es war ein einziges polyphones Gewirr. Viele Buchstaben waren in ihr, die sich aus Rollen abwickeln ließen und die nur darauf warteten, gesprochen zu werden. Ungezählte Stimmen.“
Die Stimmen wollen einen ewigen Text weben, wollen „erklingen“, zum Sprechen gebracht werden. Das ist Anstrengung, das ist auch eine Verpflichtung gegen sich selbst, aber vor allem ist es ein Akt der Lust und der Befreiung. Dieser ewige Text will allerdings auch gehört werden, und so ist es nur konsequent, wenn die Stimme am Ende das Zimmer verlässt und hinaus in die Welt tritt. Annabel Ziekowski, die die Stimme „nie heraus gelassen (hat) aus ihrer Kehle“, die sie „versteckt“ hat, bleibt stumm zurück. Es ist nicht möglich, den Drang zum Erzählen auf Dauer zu unterdrücken, ohne selbst Schaden zu nehmen.
„Welt ohne Inventar“ schließlich, die dritte Erzählung, schildert die verstörende Erfahrung des 16jährigen Schülers Tom, der eines Nachmittags erleben muss, wie die Möbel seines Zimmers eins nach dem anderen verschwinden. Als er auch noch seine Stimme verliert, wird für Tom seine eigene Existenz fraglich. Allein in seinem Zimmer, nicht wissend, ob es noch eine Welt hinter der Zimmertür, ob es überhaupt noch Raum und Zeit gibt, bleiben ihm nur noch sein Körper, den er spürt, und seine Gedanken als Anker der Selbstgewissheit. Und auch wenn sich am Ende erweist, dass die Welt außerhalb des Zimmers noch da ist, und das Leben offensichtlich unbeeinträchtigt weiter gegangen ist, bleibt seine Stimme verloren.

Am Ende stehen mit dem japanischen Jungen, Annabel Ziekowski und Tom drei stumme Menschen. Aber es ist gerade das Verstummen nach außen, das die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der Stimme nicht nur als Ausdruck, sondern als Kern der eigenen Identität, des eigenen Wesens lenkt. Diesen Kern versuchen die männlichen Hauptfiguren und Annabel Ziekowskis Stimme gegen alle fremden Ansprüche zu behaupten. Und zu diesem Wesen gehört dabei auch die besondere Bedeutung, die die Sprache für die Figuren hat. Wenn sich immer wieder Worte und Sätze materialisieren, wenn sie von den Protagonisten ertastet und gespürt werden können, dann spiegelt sich darin ein wahrhaft sinnliches Verhältnis zur Sprache und letztlich auch zur Literatur. Ein Verhältnis, das man unter dem Eindruck der Erzählungen wohl auch der Autorin unterstellen darf.
„Der japanische Junge“ ist der erste Erzählband, der von Katja Hachenberg-Voss vorliegt, und es ist ein bemerkenswertes Debüt. Beeindruckend ist vor allem die Souveränität, mit der Hachenberg-Voss ihr Thema gestaltet, die Balance, die sie zwischen Momenten großer Nähe zu ihren Figuren, der Darstellung der Dringlichkeit ihres Erlebens und einer gleichzeitigen ruhigen Distanz zu dem Geschilderten hält. Ihr gelingt es, die Geschichten in eine poetische Sprache und eindringliche Bilder und Metaphern zu kleiden, die beim Leser haften bleiben, genau wie übrigens auch die Abbildungen der Holzskulpturen von Reinhard Voss‘, die die Erzählungen illustrieren.
Die Geschichten sind wunderbar klar und schnörkellos erzählt, und, das ist besonders hevorzuheben, Katja Hachenberg-Voss findet für ihre Protagonisten jeweils einen eigenen, überzeugenden Ton. Zurückhaltend, naiv, verspielt ist die Stimme des japanischen Jungen, euphorisch und überbordend die befreite Stimme Annabel Ziekowkis und nüchtern analysierend, ein Gegengewicht gegen die aufkommende Panik, diejenige Toms.
„Der japanische Junge“ ist ein Erzählband, der Lust macht aufs Erzählen und auf mehr
Erzählungen der Autorin.

Katja Hachenberg-Voss:
Der japanische Junge.
Info-Verlagsgesellschaft, Karlsruhe 2012.
52 Seiten. 12,80 Euro
ISBN: 978-3881906814